Wenn Gesundheit zur Ware wird – Vorsorge klingt zunächst nach Fürsorge. Nach Sicherheit, Früherkennung und Lebenserhalt. Doch was, wenn diese angebliche Sicherheit Teil eines gigantischen Geschäftsmodells ist? Was, wenn Angst das eigentliche Produkt ist – und Menschen zu Kunden einer Industrie werden, die am Gesunden mehr verdient als am Kranken?
In kaum einem Bereich wird so intensiv geworben wie bei der „Vorsorge“. Dabei sind viele dieser Untersuchungen nicht nur teuer, sondern auch hoch umstritten. Die Rede ist von PSA-Tests, Mammographien, Darmspiegelungen, Lungen-Screenings oder Ganzkörper-MRTs. Sie sollen Krebs entdecken, bevor er Schaden anrichtet. Doch allzu oft entdecken sie gar nichts Relevantes – oder führen zu falschen Alarmen und riskanten Folgebehandlungen.

PSA-Test: Der umstrittene Frühwarner
Der PSA-Test (Prostata-spezifisches Antigen) wird männlichen Patienten oft als Pflichtprogramm zur Prostatakrebsvorsorge empfohlen. Dabei ist seine Aussagekraft begrenzt. Studien zeigen, dass nur ein Bruchteil der entdeckten „Auffälligkeiten“ tatsächlich behandlungsbedürftige Tumore sind. Die Folge: Biopsien, Operationen oder Bestrahlungen mit gravierenden Nebenwirkungen wie Inkontinenz oder Impotenz – bei Patienten, die womöglich niemals Symptome entwickelt hätten.
Selbst die US Preventive Services Task Force (USPSTF) rät inzwischen von einem breiten PSA-Screening ab. Zu viele Fehldiagnosen, zu viele Übertherapien, zu hohe Kosten.
Darmspiegelung: Sinnvoll oder Selbstbedienung?
Auch die Darmspiegelung (Koloskopie) wird als Pflichttermin ab dem 50. Lebensjahr verkauft. Sicherlich können Polypen früh erkannt und entfernt werden. Doch die Frage ist: Zu welchem Preis? Die Untersuchung ist invasiv, risikobehaftet (Blutungen, Darmperforationen) und mit nicht zu unterschätzender psychischer Belastung verbunden.
Dazu kommt: Die Prävalenz von aggressivem Darmkrebs ist im gesunden Bevölkerungsanteil sehr gering. Viele gefundene „Auffälligkeiten“ sind gutartig oder wachsen so langsam, dass sie nie Probleme gemacht hätten. Dennoch führen sie zu Panik, Kontrolluntersuchungen oder gar Operationen.

Mammographie: Früherkennung oder falscher Alarm?
Besonders bei Frauen ist die Mammographie ein klassisches Beispiel für eine Vorsorgepraxis, die mehr schadet als nutzt. Studien zeigen: Ein Drittel aller Brustkrebsdiagnosen durch Mammographie betreffen sogenannte DCIS (Ductales Carcinoma in situ) – Zellveränderungen, die in vielen Fällen nicht invasiv werden und nie Beschwerden verursachen würden.
Dennoch werden betroffene Frauen oft operiert, bestrahlt oder hormonell behandelt – mit massiven Folgen für Lebensqualität, Psyche und Partnerschaft. Kritiker sprechen von einem Screening-System, das Frauen krank macht, die gesund waren.
Die Psychologie der Angst
Warum lassen sich Millionen Menschen freiwillig invasiven Untersuchungen unterziehen, obwohl die Erfolgsquote fraglich ist? Die Antwort liegt in der Psychologie: Angst. Die Furcht vor „stillem Krebs“ oder „plötzlichem Tod“ ist ein Verkaufsmotor. Sie lässt Menschen rationale Abwägungen vergessen und medizinischen Autoritäten blind vertrauen.
Gesundheit wird so zum Verkaufsargument, Früherkennung zur Versicherung gegen das Unkontrollierbare. Medien, Krankenkassen und Pharmaunternehmen tragen zur Dramatisierung bei. Wer sich nicht untersuchen lässt, gilt schnell als verantwortungslos.
Die Industrie dahinter
Hinter der Fassade der Gesundheitsvorsorge stehen wirtschaftliche Interessen. Kliniken, Laborbetreiber, Medizintechnikhersteller und Pharmafirmen profitieren von hohen Fallzahlen. Jede Diagnose bedeutet Einnahmen. Jede Therapie sichert Arbeitsplätze. Und jede neue Leitlinie schafft Absatzmärkte.
Ein Blick in wirtschaftliche Bilanzen zeigt: Die Vorsorgemedizin ist ein Milliardenmarkt. Und genau darin liegt das Problem. Wo Geld fließt, werden ethische Fragen zweitrangig. Vorsorge mutiert zur Verkaufsstrategie.

Was sagt die evidenzbasierte Medizin?
Zahlreiche Metastudien und Cochrane-Analysen kommen zu einem ernüchternden Ergebnis: Viele Vorsorgeuntersuchungen haben keinen oder nur einen marginalen Einfluss auf die Gesamtsterblichkeit. In manchen Fällen steigt durch Überdiagnose und Übertherapie sogar die Krankheitslast.
Die Leitlinie der evidenzbasierten Medizin lautet daher: So viel Diagnostik wie nötig, so wenig wie möglich. Besonders bei asymptomatischen Menschen sollten Nutzen und Schaden sorgfältig gegeneinander abgewogen werden.
Natürliche Alternativen zur Gesundheitsvorsorge
Statt sich auf Angst und Technik zu verlassen, könnten echte Gesundheitsstrategien viel einfacher aussehen:
- Gesunde Ernährung mit frischen Lebensmitteln
- Tägliche Bewegung und Sonnenlicht
- Vermeidung von Dauerstress und Schlafmangel
- Reduktion von Giftstoffen (Rauchen, Alkohol, Pestizide)
- Aufbau einer positiven Lebenshaltung
Prävention beginnt nicht im Untersuchungsraum, sondern im Alltag. Ein starkes Immunsystem, gesunder Stoffwechsel und emotionale Balance sind bessere Garanten für Gesundheit als jede Früherkennung.
Fazit: Wache Patienten statt blinde Konsumenten
Vorsorge ist wichtig – aber nicht um jeden Preis. Kritische Information, echte Aufklärung und eine gesunde Portion Skepsis gegenüber marktwirtschaftlich motivierten „Früherkennungen“ sind angebracht. Der Mensch ist kein Reparaturfall, sondern ein selbstregulierendes Wesen. Vertrauen wir also mehr unserer inneren Stimme und weniger der Panikindustrie. Denn echte Gesundheit braucht keine Angst – sondern Bewusstsein.
Quellenverzeichnis
- Cochrane Deutschland – „Krebsfrüherkennung: Nutzen oder Schaden?“
https://www.cochrane.de/de/screening - Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) – „Prostatakrebs: PSA-Test“
https://www.gesundheitsinformation.de/psa-test.html - Deutsches Ärzteblatt – „Screening auf Prostatakrebs: PSA-Test umstritten“
https://www.aerzteblatt.de/archiv/211295 - Stiftung Warentest / Gesundheitsportale – „Darmspiegelung: Nutzen, Risiken, Alternativen“
https://www.test.de/Darmkrebsfrueherkennung-Nutzen-und-Risiken-von-Tests-4857186-0/ - Swiss Medical Weekly – „Mammographie-Screening: Nutzen und Schaden im Vergleich“
https://smw.ch/article/doi/smw.2014.14050 - US Preventive Services Task Force (USPSTF) – „Final Recommendation Statement: Prostate Cancer: Screening“
https://www.uspreventiveservicestaskforce.org - Ärzte für individuelle Impfentscheidung – „Vorsorge oder Überversorgung?“
https://individuelle-impfentscheidung.de