Fremdbetreuung ist für viele Familien ein kontroverses Thema. Nur wenige Familien können es sich leisten, dass ein Elternteil daheim bleibt und sich um das kleine Kind kümmert. Müssen Papa und Mama sich nun Vorwürfe machen, dass sie ihr Kind einer „Fremdbetreuung“ überlassen? Oder gewinnt das Kind eher sogar noch dadurch? Ein strittiges Thema, das man nicht klar mit Ja oder Nein beantworten kann. In diesem Artikel erfährst Du, worauf es wirklich ankommt und wie Du die beste Entscheidung für Dein Kind triffst.
➥ Autor: Niki Vogt
Fremdbetreuung als Ersatz für Geschwister: Chancen für Einzelkinder
Die meisten Familien in Deutschland haben nur ein Kind. Noch vor fünfzig Jahren gab es wesentlich mehr Familien mit zwei oder drei, vier Kindern. Einzelkinder hatte es meistens schwerer. Sie kamen mit ihren Altersgenossen nicht besonders gut zurecht, sie waren oft verwöhnte Individuen, deren Eltern ihnen wenig Grenzen setzten. Denn sie waren immer der Mittelpunkt, haben nie in der strengen Schule der Geschwister das Teilen gelernt, das Sich-durchsetzen, Kompromisse zu machen, von den Älteren zu lernen und auf die Jüngeren Rücksicht zu nehmen. Bei Geburtstagen dem Geschwisterkind die Geschenke und die Aufmerksamkeit nicht zu neiden. Felsenfest zusammenzustehen, wenn ein Geschwister in Probleme kommt. Sich zusammenzuraufen, weil man es einfach muss. Das ist die natürlichste Schule des Lebens, die einem kleinen und heranwachsenden Menschlein das „Sippenleben“ in die DNA schreibt. Es ist anstrengend, aber auch ein Gefühl von Schutz und Sicherheit. Das Einmaleins der Sozialisierung in der Familie. Anstrengend und beglückend.
Die Ein-Kind-Familie kann das nicht bieten. Einen gewissen Ersatz aber kann das Kind im Kindergarten oder bei einer Tagesmutter doch bekommen. Wenn das gut betreut wird, vermittelt es dem Kind genau die beschriebenen Fähigkeiten. Zum Problem wird es, wenn die Eltern es morgens abliefern und erst spätnachmittags abholen, sodass die elterliche Liebe und Fürsorge nicht sein zentrales Leben ist. Ein Kindergarten oder eine Kindertagesstätte kann einem Kind viel bieten und ersetzen, wenn es „Daheim“ auch in einer liebenden Geborgenheit zu Hause ist und seine Eltern ihm am nächsten sind. Hat einer der Eltern einen Job, bei dem er am Nachmittag daheim ist, vielleicht im Home-Office und ein Ansprechpartner für das Kleine ist, dann ist schon viel gewonnen.
Bemerken die Eltern, dass das Kind sich zurückzieht, weint, wenn es in die Fremdbetreuung kommt und sich dort – über die Eingewöhnungszeit hinaus – in einer Ecke verschanzt oder auf eine andere Art sich vor dieser Umgebung zu schützen versucht, sollten die Alarmglocken läuten. Hier läuft etwas grundlegend falsch und kann die Persönlichkeit und die emotionale Entwicklung beschädigen. Ein Gespräch mit den Betreuern sollte zu einer baldigen Lösung führen. Ansonsten muss das Kind erst einmal daheim wieder in einen entspannten Zustand kommen und von da aus kann man dann, vorsichtig und langsam ausbauend, einen Neustart in einer anderen Einrichtung versuchen.
Ja, das ist leicht gesagt, wenn man verzweifelt nach einem Betreuungsplatz für sein Kind sucht, weil man sich nicht leisten kann, den Job zu verlieren. Wer die Wartezeiten zur Aufnahme nochmal und nochmal durchleben will, der weiß, was das für ein Stress ist. Und der Anfang ist auf jeden Fall schwer. Das Kind braucht seine Zeit, um sich in eine Gruppe einzufinden.
Fremdbetreuung ist für das Kind immer auch Stress – aber auch eine Herausforderung, an der es wachsen KANN …
Kinder, die außerhalb der Kernfamilie betreut werden, machen einen enormen Entwicklungssprung. Sie lernen, welche Spielkameraden zu ihnen passen und ihre Rolle zu finden, mit der sie angenommen und geschätzt werden. Sie lernen aber auch, sich zu behaupten und ihre Spielkameraden und deren Absichten, Minenspiel, Verhaltensweisen mit all ihren Nuancen und nonverbalen Botschaften zu lesen. Dadurch lernen sie auch, die Reaktionen der anderen schon im Voraus einzuschätzen und wie sie darauf reagieren wollen. DAS ist ein Kapital für das ganze Leben, man nennt es „soziale Intelligenz“.
Kinder und alte Leute haben nackte Gesichter, sagt der Volksmund und die Kinder lesen auch ganz instinktiv in den Gesichtern ihrer Kameraden. Diese Informationen werden mit dem Heranwachsen immer schwerer zu lesen, aber wer sie als Kind gelernt hat, erkennt sie trotzdem, denn Spuren davon bleiben erhalten.
Kinder, die in Gruppen (ob Kindergarten, Kita, Tagesmutter) integriert sind, werden kreativer, entwickeln mehr Selbstvertrauen, weil sie auch allein mit verschiedenen Herausforderungen fertig zu werden lernen. Das Kind kann nicht einfach losquengeln und weinen, und schon springt sofort Mama oder Papa herbei und löst das Problem. Es macht die Kinder selbstbewusster, wenn sie erfahren, dass sie sich selber helfen können. Sie lernen gleichzeitig auch, an wen sie sich wenden können, um Unterstützung zu bekommen und wie sie das anfangen müssen. Auf diese Weise erlernen sie eine ganze Palette an Fähigkeiten, die einen stabilen Grundstock für ihr weiteres Leben bereitstellen. Solche Kinder haben einen Entwicklungsvorsprung zwischen 6 und neun Monaten gegenüber Kindern, die ausschließlich zu Hause betreut werden.
Menschliche Kinder kommen viel zu früh zur Welt, im Gegensatz zu den meisten Tierkindern
Das gilt aber für Kinder ab drei Jahren. Bis zu diesem Alter sind Menschenkinder noch zu sehr an die Eltern gebunden. Das lässt sich übrigens quer über die Welt beobachten. Eine längere Trennung von Mutter oder Vater in den ersten drei Jahren ist nicht natürlich und bedeutet für das Kleinchen Angst und Stress, der sich tief in die Kinderseele eingräbt.
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Menschliche Kinder kommen viel zu früh zur Welt. Das liegt daran, dass der Mensch den aufrechten Gang entwickelt hat. Die Beckenöffnung der Frau ist zu klein, um ein größeres Kind zu gebären. Das „Menschenjunge“ ist vollkommen hilflos, und das über ein Jahr. Es hat noch nicht einmal Fluchtinstinkte. Tierkinder stehen oft schon Minuten nach der Geburt auf ihren Beinen und können eine halbe Stunde später hinter der Mutter her laufen.
Die Unreife menschlicher Babys, bedingt durch ihren vergleichsweise großen Kopf, erklärt, warum sie in den ersten Lebensmonaten unbedingt die Nähe der Mutter brauchen. Experten betrachten das erste Lebensjahr als eine „Verlängerung der Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter“. In dieser Zeit ist das Kind vollständig auf seine Eltern programmiert. Eine frühe Fremdbetreuung kann deshalb als Bedrohung empfunden werden, die bei Babys zu enormem Stress führt. Sie fühlen sich „ausgesetzt“ und reagieren mit einem Anstieg des Cortisolspiegels – dem Stresshormon, das auch Erwachsene in Alarmbereitschaft versetzt. Untersuchungen zeigen, dass dieser Wert bei Kleinkindern zwar wieder absinkt, aber oft dauerhaft unter den Normalwert fällt. Ein solcher Zustand ist vergleichbar mit den Symptomen eines Burnouts bei Erwachsenen, wenn das sympathische Nervensystem – verantwortlich für Kampf- und Fluchtreaktionen – nicht mehr richtig funktioniert.
Das Dritte Lebensjahr ist der Schritt ins Leben – auch für das Immunsystem
Ab drei Jahren, wenn das Kind eigenständig läuft, die Umgebung aktiv erkundet und auf andere zugeht, signalisiert es, dass es bereit ist, die Welt zu entdecken. Lernen, ausprobieren und neue Eindrücke sammeln stehen nun im Mittelpunkt.
Viele Eltern zögern jedoch, ihr Kind in die Fremdbetreuung zu geben, weil es dort häufiger krank wird. Das stimmt tatsächlich: Fremdbetreute Kinder sind deutlich häufiger von Infektionen betroffen als zu Hause betreute. In der Kita kommen viele Kinder zusammen, stecken die Köpfe zusammen, und Krankheitserreger verbreiten sich schnell. Der Start in die Fremdbetreuung bedeutet daher oft auch den Beginn häufiger Infekte.
Doch das ist nichts Neues – schon früher spielten Kinder auf Höfen oder in Dörfern eng beieinander. Die „Rotznasen“ waren damals ganz normal. Das Immunsystem entwickelt sich rasant ab dem Moment, in dem Kinder mobiler werden und mit anderen in Kontakt kommen. Schmutz, Dreck und Infekte gehören einfach dazu.
Wenn Wissenschaftler darauf hinweisen, dass 83 % der fremdbetreuten Kinder von Infektionen betroffen sind, verglichen mit nur 5 % der zu Hause betreuten Kinder, ist das grundsätzlich richtig. Eltern werden dadurch belastet, müssen sich um kranke Kinder kümmern und den Alltag neu organisieren. Dennoch: Der Kontakt mit Krankheitserregern ist wichtig, denn das Immunsystem lernt dabei.
Kinder, die ausschließlich zu Hause betreut werden, sind zwar weniger krank, entwickeln jedoch häufiger Allergien. Das Immunsystem will trainiert werden – findet es keine Krankheitserreger, sucht es nach anderen „Gegnern“, wie Pollen oder Eiweißen, die es bekämpfen kann.
Kinder sind für das Leben gut ausgestattet, sie müssen es nur trainieren
„Ein früher Kontakt zu den vielfältigen Mikroben und Allergenen der Umwelt dagegen mobilisiert die Abwehrkräfte und führt so zu einer normalen Immunantwort und zum Aufbau einer Toleranz gegen Umweltantigene. Fehlen solche Reize, dann ist das Immunsystem gewissermaßen ‚unterbeschäftigt‘ und sucht sich seine Feinde selbst, um sie dann mit unerwünschten, allergischen Immunantworten zu bekämpfen“. Wie die Studienlage inzwischen zeigt, lässt sich mit dem Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel das Allergierisiko nicht absenken. Eine eigenmächtige Weg-lass-Diät geht vielmehr auf Kosten der Nährstoffversorgung, was zu Entwicklungsstörungen beim Baby führen kann.“
Bekanntermaßen haben Landkinder seltener Allergien als Stadtkinder und je „hygienischer“ ein Einzelkind in einem extrem sauberen Haushalt aufwächst, umso weniger ist das Immunsystem trainiert und schert aus.
Und noch etwas, liebe junge Eltern: Euer Kind mag weniger krank im Alter zwischen drei und sieben Jahren sein, wenn es nicht zumindest öfter unter andere Kinder kommt. Aber dann geht dieser Vorgang der Ausbildung und des Trainings des Immunsystems eben im ersten Schuljahr los. Denn da muss das Kind hin und die dann einsetzenden Krankheits-Fehlzeiten werden ihm die Schulzeit hart machen. In Grundschulen ist bekannt, dass jüngere Geschwister bei ihrem Schulbeginn weniger krank sind. Das liegt daran, dass das ältere Kind bereits die Mikroben der Schule nach Hause gebracht hat, sodass das Immunsystem des jüngeren Kindes viele davon schon kennt.
Lasst Eure Kinder frei und froh heranwachsen, kümmert Euch liebevoll um sie, aber verhätschelt sie nicht. Kinderkrankheiten heißen so, weil Kinder sie normalerweise einfangen. Behütet sie liebevoll, solange sie das brauchen und traut ihnen zu, sich ins Leben zu wagen, wenn sie dazu alt genug sind. Und das fängt mit drei Jahren an. Schaut Euch sorgfältig an, wem Ihr Eure Kinder anvertraut, aber regt Euch nicht ständig auf, wenn mal was schiefläuft. Bleibt ruhig und gelassen, dann sind es Eure Kinder auch. Kinder sind stärker, als Ihr glaubt. Ich weiß das. Insgesamt sechs Kinder und elf Enkel sind ein gewisser Erfahrungsschatz.