Das Thema Frauen, Männer, Trans, Queer und Gendern, die scheinbar „überkommenen Rollen“ von Mann und Frau erhitzt die Gemüter fast quer durch die westliche Welt. Im Windschatten davon blühen die unterschiedlichsten Denk- und Lebensmodelle. Neue Begrifflichkeiten feiern Erfolge, wie „Divine Feminine“ oder „Dark Masculine Energy“ oder Yin&Yang als Erwachen der männlichen +weiblichen Energie in allen Geschlechtern und Gendern.
➥ Autor: Niki Vogt
Die Grundpfeiler menschlichen Lebens verändern sich
Ein Blick durch das Internet bei der Eingabe von entsprechenden Suchbegriffen offenbart eine babylonische Verwirrung von Begriffen, Deutungen, halbreligiösen Interpretationen und schlicht erfundenen, New-Age-artigen Lehren. Tut man sich den Tort an und liest sich ein, ist man am Ende noch verwirrter als vorher … aber auf wesentlich höherem Niveau.
Ein Wunder ist das nicht, denn niemals in der Geschichte der Menschheit waren die Rollen von Mann und Frau jemals so infrage gestellt worden. In den letzten hundertfünfzig Jahren begann mit dem Aufkommen der Industriegesellschaften damit auch der Kampf um die Gleichberechtigung der Frau, was eine gesellschaftliche Veränderung mit sich brachte, die bis tief in die Familien hineinging. Bis dahin arbeiteten die meisten Menschen (ca. dreiviertel der Bevölkerung) in der Landwirtschaft, die von alten Bauernfamilien getragen wurden, wo jeder seinen festen Platz hatte. Ohne dieses Gefüge von Bauer, Bäuerin, Altbauern, Mägden und Knechten hätten die Höfe nicht überlebt.
Es waren Schicksalsgemeinschaften, in denen jeder seinen Teil beitrug. Das war seit Menschengedenken so und die Rolle der Frau war alles andere als unterdrückt und beschränkte sich nicht auf das Haus. Die Bäuerin musste – und muss heute noch – ordentlich zulangen bei der Arbeit. Ohne sie war der Hof verloren und ohne ihn auch.
Männer und Frauen in der Identitätskrise
Das Industriezeitalter brach diese Struktur auf. Die Massen zogen in die Städte und verdingten sich entweder in den Fabriken oder als Bedienstete der reich gewordenen Fabrikanten in ihren großbürgerlichen Häusern. Die alten Rollen existierten weiter, waren aber meist nur mehr symbolisch, denn die einfachen Frauen gingen ebenfalls arbeiten, wenn auch nicht gerade in den besonders kraftraubenden Tätigkeiten. Man musste in der unteren Gesellschaftsschicht nur irgendwie „durchkommen“. Die Selbstmordrate war sehr hoch, die traditionellen Rollenbilder ausgehöhlt.
Die Frau war als Mutter nicht mehr die verehrte Lebensspenderin und Hüterin des Hauses, sondern die Produzentin hungriger Mäuler. Der Mann nicht mehr der wehrhafte Beschützer und starke Versorger, sondern ein ausgemergelter Tagelöhner der überwiegend das wenige Geld versoff. Die Bilder und „Miljöh“-Zeichnungen der Berliner Hinterhöfe des Künstlers Heinrich Zille zeichnen ein beredtes Bild der bettelarmen Arbeiterschaft, in denen nichts nach „maskuliner“ oder „femininer“ Energie anmutet.
Nur im reichen Bürgertum blieb der Mann vorwiegend noch der dominante Teil und es gehörte zum guten Benehmen, den Frauen eine gewisse Ehrerbietung und Galanterie als Gentleman entgegenzubringen.
Gibt es denn ein klares und unverrückbares biologisches Geschlecht – oder ist das alles ein Konstrukt?
Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wen man heute fragt. Viele negieren, dass es überhaupt ein natürliches, festgeschriebenes Geschlecht gibt. Jedes Individuum könne selbst bestimmen, als was es denn leben will und frei entscheiden, als was es „gelesen werden“ will und warten mit bewundernswerter Belesenheit, mit biologischen Ausnahmeerscheinungen auf. Beispielsweise, dass Schnecken Zwitter sind, dass bei Seepferdchen der Mann schwanger wird und die Jungen betreut und der Clownfisch ein Trans-Fisch ist. Diese in der Natur vorkommenden Ausnahmen haben sich überall da entwickelt, wo es vorteilhaft für das Leben dieser Art ist. Das ist – wie alles in der Natur – weder gut noch schlecht, sondern hat seine Gründe. Tiere, die beide Anlagen haben und ihr Geschlecht nach den Erfordernissen wechseln können, nennt man in der Wissenschaft „sequenzielle Hermaphroditen“. Tiere, die gleichzeitig männlich und weiblich sein können, „gynandromorphistisch“.
Das gibt es, und wie gesagt, dass hat seine Gründe und es sind unter den vielen Millionen nur wenige Arten. Diese Ausnahmen dienen aber samt und sonders zur Verbesserung der Zeugung und Vermehrung von Nachwuchs und damit der Arterhaltung und nichts anderem.
Beim Menschen gibt es sehr selten auch Hermaphroditen
Das ist aber kein Beweis dafür, dass grundsätzlich das biologische Geschlecht nicht festgelegt ist. Bei Bienen hängt die Fortpflanzung des ganzen Volkes von einer einzigen wirklich fruchtbaren Bienenfrau ab: der Königin. Die Arbeiterinnen sind nicht zeugungsfähig. Auch das ist nicht auf den Menschen übertragbar.
Ja, es gibt Männer, die sehr weiblich wirken und umgekehrt auch Frauen, die einen sehr männlichen Eindruck machen. Sie sollen gern und glücklich so leben, wie und mit wem sie es möchten. In einer zivilisierten, freien Gesellschaft muss das selbstverständlich möglich sein.
Das ist die gesellschaftliche Seite, das bewusste Entscheiden, wer man sein will. Aber es gibt eben doch die biologische Seite. Der absolut überwiegende Teil des Lebens auf dieser Erde ist das biologische Maskulin/Feminin-Prinzip. Sogar bei Pflanzen. Es gibt rein männliche und rein weibliche Pflanzen einer Art, wie Sanddorn, Weiden und Kiwis. Aber die allermeisten haben beide Teile, nämlich den männlichen Pollen und den weiblichen Blütenstempel. Und einen Samen bildet die Pflanze nur dann aus, wenn der Pollen auf den Blütenstempel kommt, was meistens die Insekten besorgen. Und es gibt Pflanzen, die selbstbefruchtend sind. Das hat sich aber von selber in der Natur so entwickelt, weil es gut für das Überleben dieser Wesen ist.
Existiert überhaupt eine objektive Charakterisierung von „Maskulin“ und „Feminin“?
Und da kommen wir zum Kern der Sache. Die Natur hat diese ganze komplizierte Methode Maskulin-Feminin nur zu einem einzigen Zweck ausgebildet: Gesunden Nachwuchs zu generieren und dabei das Gleichgewicht zwischen brutaler Auslese und fürsorglichem Behüten zu halten.
Illustrieren wir das beispielhaft an einem Löwenrudel. Der starke, männliche Löwe erreicht die Stellung des Rudelführers nur, indem er sich als der Beste beweist und sich diese Rolle gegen seine Rivalen erkämpft. Er ist fast doppelt so groß und schwer wie die Weibchen.
Die Löwinnen jagen gemeinsam in perfekter Abstimmung und sehr intelligent. Ist das Opfer ausgesucht und eine lohnend große, gefährliche Beute, wird es von den Löwinnen zum Löwenmann getrieben, der dieses wehrhafte Beutetier erlegen muss. Und wehe, er versagt, dann war alles umsonst und das Rudel geht hungrig heim.
Wird der Rudelführer von einem stärkeren Rivalen vertrieben, wird der Neue zuerst einmal den vorhandenen Nachwuchs töten und die Weibchen begatten, um seine Gene zu verbreiten. Das klingt furchtbar, ist aber das Gesetz der Natur. Er hat die besseren Gene – und das kommt der ganzen Art zugute.
Diese Struktur zieht sich in Varianten durch die gesamte Natur
Dabei sind fast immer die männlichen Tiere diejenigen, die sich immer beweisen müssen, die durch Stärke, Durchsetzungswille und Gesundheit punkten und die Weibchen überzeugen müssen, der beste Partner für ihre Jungen zu sein. Ob das der balzende Auerhahn ist oder der kampfbereite Hirsch, der Löwenmann oder die Kater aus dem Viertel: Das Männchen muss sich als Prachtexemplar beweisen, das Weibchen sucht sich das beste Genmaterial aus.
Bei Tieren, die Einzelgänger sind, ist die Rolle des männlichen 1a-Genmaterialspenders mit der Zeugung erledigt. Die Aufzucht ist dann komplett das Problem des Muttertieres. Bleiben die Elternpaare zusammen und ziehen die Jungen groß – oder ist es eine soziale Gruppe, haben die Männer meist die Aufgabe des Schutzes der Gemeinschaft. Eine Büffelherde stellt sich bei einem Raubtierangriff meist so auf, dass die Bullen mit gesenkten Hörnern den Verteidigungsring um die Kühe und die Kälber in der Mitte bilden. Die Elterntiere schützen ihre Jungen. Wer den Todesmut von Amseleltern gegen eine – für sie riesige – Katze mitangesehen hat, um ihr Küken zu schützen, der weiß, was gemeint ist.
Foto: @joaquincorbalan via envato.elements
Bei Primaten, vom Rhesusaffen bis zum Gorilla, ist es auch der große, starke Boss, der im Gefahrenfall für den Schutz verantwortlich ist. Er muss auch seine Sippe zu besseren und fruchtbareren Gebieten führen, wenn die Dürre bedrohlich wird oder zu viele Räuber die Gruppe bedrohen. Während die Weibchen sich um die Jungen, das Futter, die Fellpflege, den inneren Frieden kümmern, sitzt der Chef da und guckt ungerührt zu und beobachtet die Umgebung, ob Gefahr droht und er einschreiten muss. Was unter Umständen sein Leben kostet, aber das schreckt ihn nicht.
Das männliche Prinzip, die maskuline Energie in der Natur ist Auslese der Besten, Chancen abschätzen, zielgerichtetes Handeln, Schutz der Seinen und Durchsetzungskraft innerhalb der Gruppe, abrufbare, fokussierte Aggression und Kampf. Aber sie sind auch Helden, die sich für die Gemeinschaft zu opfern bereit sind. Sie setzen ihren enormen Mut und ihre Kraft für die Ihren ein. Die Lebensspanne der Männchen ist fast immer deutlich kürzer, als die der Weibchen. Sie geben Gas – und verbrennen ihre Lebensenergie schneller oder kommen im Kampf um. Es ist das Hochleistungs- und Hochrisiko-Prinzip.
Das weibliche Prinzip, die feminine Energie in der Natur ist das Hervorbringen, Nähren, Behüten und Unterweisen der Kinder als Sinn des Weitergebens des Lebens. Die weibliche Überlebenstaktik ist Vorsicht und Anpassung. Und innerhalb der Gruppe oder Familie sich und ihren Nachwuchs mit sozialer Kompetenz – oder manchmal auch List und Tücke – eine gute Position zu ermöglichen. Die Balance zwischen Gemeinwohl und individuellem Vorteil zu halten und Gefahren möglichst aus dem Weg zu gehen, Streitereien zu schlichten, zu vermitteln, die Familie im harmonischen Gleichgewicht zu halten, sodass es allen gut gehen. Ihre Kinder verteidigen die Weibchen mit furioser Wildheit, egal gegen wen. Es ist das Prinzip der Vorsicht und des Primat des Überlebens der nächsten Generation.
Wir sind auch alle Kinder dieser Natur – aber wir können über unser Verhalten und unseren Wertekanon nachdenken und bewusst entscheiden
Dabei sind beide Energien, die maskuline und die feminine, gleichwertig. Die eine ohne die andere wäre verloren. Und in jedem ist auch ein Teil der anderen Energie enthalten: Auch Frauen kämpfen, wenn es Not tut, und wie! Auch Männer sind fürsorglich, mitfühlend und aufmerksam. Wie im Yin und Yang, wo im weißen Yin ein schwarzer Yang-Punkt ist und umgekehrt: Nur zusammen bilden sie ein Ganzes.
Die zurzeit gepflegte Mode, Männer als grundsätzlich „toxisch“ zu diffamieren, ist dumm und ungerecht, sie diskriminiert die eine Hälfte der Menschheit, ja, der gesamten Natur. Oder, wenn man so will, die eine Hälfte der Schöpfung Gottes – denn das männliche Prinzip oder die männliche Energie zieht sich – wie auch die weibliche Energie – durch alle Lebensformen dieser Erde. Können wir nicht das Anderssein und die ganz besondere Energie unserer jeweils anderen Hälfte der Menschheit lieben und schätzen? Spiegeln wir uns denn nicht gerade dadurch gegenseitig unsere spannende und reizvolle Andersartigkeit wider? Wenn wir das, was die andere Hälfte ausmacht, nicht vorwurfsvoll abwerten, sondern gegenseitig als Faszination und liebevolle Wertschätzung annehmen, verstärken sich die schönen Schwingungen zwischen den Polen, anstatt zu kollidieren und Chaos zu erzeugen.