Einmal-am-Tag-was-Verrücktes-tun-Tag

Heute schon was Verrücktes, Wildes oder Unberechenbares getan? Nein? Dann wird es aber Zeit. Das Leben liebt den Sparmodus mit seinen Routinen, die Seele und der Geist aber brauchen auch Ver-Rückte, das Lebendige, um zu spüren, dass wir da sind und dass wir etwas Neues lernen können. Ein Aktionstag erinnert daran. Wer mitmacht, erfährt auch, wie sich dabei ein schönes neues Zeitgefühl einstellen kann.

Autor: Andreas Müller-Alwart

„Ich glaube, heute bin ich wieder mal mit dem linken Fuß aufgestanden.“ Wer diese Erkenntnis – meist seufzend von sich gibt – erlebt gerade einen Tag, der offensichtlich anders verlaufen ist, als er gedacht oder geplant war. Meist ist etwas schiefgegangen. Doch es kann wunderbar sein, wenn wir aus unserem Plan gerissen werden, wenn das Leben so ist, wie es ist: Anders als geplant. Am heutigen kuriosen Feiertag „Einmal-am-Tag-was-Verrücktes-tun-Tag“ geht es genau darum, mal etwas zu tun, was aus dem Plan „ge-rückt“ ist, was „ver-rückt“ ist. Mehr noch: Es geht sogar darum, ganz bewusst etwas Verrücktes zu planen. Das muss nichts überragend Großes oder Überwältigendes sein, wie wir gleich noch sehen werden.

Was soll das bringen?

Wir neigen alle dazu, unser Leben in einem Sparmodus zu betreiben: Routinen und regelmäßige Abläufe helfen uns, möglichst wenig Energie für etwas aufzuwenden, das wir bereits kennen. Besonders das Gehirn – unser größter Gehirnverbraucher – orientiert sich bei „neuen“ Eindrücken immer an vorhandenen Mustern und ordnet die Gedanken diesen Mustern zu. Der Sparmodus ist eine sinnvolle Einrichtung der Natur – gleichzeitig kann er eine gewisse Lebendigkeit und sinnvolle Innovationen verhindern. Wirklich Neues wird so manchmal sogar übersehen, unwichtiges wird gar nicht groß registriert. Jeder kennt das Beispiel vom roten Auto: Kaum jemand könnte am Abend sagen, ob und wie viele rote Autos er gesehen hat – es sei denn, er hat einen besonderen Fokus für die Aufnahme dieser Information, z. B., weil er gerade mit dem Gedanken spielt, sich ein rotes Auto zu kaufen. Unsere Routinen sind wichtig: Wir können nicht bei jedem Fuß, den wir beim Gehen voranstellen, jedes Mal neu darüber nachdenken, ob wir den rechten oder linken Fuß nehmen. Gleichzeitig ist es wichtig, sich seiner Routinen bewusst zu werden, Körper und Geist ab und an bewusst herauszufordern.

Das Durchbrechen der Routine sollten wir zu einer Art Routine im Alltag werden lassen. Foto: @lenaivanovaphoto via Twenty20

Heute ist ein neuer, ein anderer Tag

Jeder Tag ist ein neuer Tag – ein völlig anderer Tag. Und an jedem Tag beginnt der Rest unseres Lebens. Wir dürfen dankbar für jeden geschenkten Lebenstag sein und wir haben jeden Tag die Chance, etwas zu verändern. Um Flexibilität beizubehalten und zu fördern, sind Aktionen, die unsere Routine durchbrechen, wichtig und sinnvoll. Sie sind wie eine Art Gymnastik für Geist und Seele im Alltag. Paradoxerweise könnte man sagen: Das Durchbrechen der Routine sollten wir zu einer Art Routine im Alltag werden lassen. Dazu gibt es viele Möglichkeiten, die teilweise banal sein können, teilweise unerwartet spektakulär. Dazu gleich ein paar Beispiele.

Wie ist dieser kuriose Aktionstag entstanden?

Die Ergotherapeutin Berenike Thiede soll anlässlich des 13. Geburtstages ihres Sohnes, diesen Aktionstag 2021 ins Leben berufen haben. Sie hat ihm gewissermaßen diesen Feiertag zu seinem persönlichen Feiertag geschenkt. Dabei war sie selbst wiederum einem anderen kuriosen Aktionstag gefolgt: „Make up your own holiday day“, also sinngemäß: Erfinde Deinen eigenen Feiertag-Tag. Und so haben wir nun diesen weiteren Aktionstag. Zum Geburtstag so einen eigenen Feiertag geschenkt zu bekommen, ist ja auch schon etwas verrückt – oder etwa nicht?

In einer E-Mail schrieb sie vor etwa einem Jahr: „Einmal am Tag etwas Verrücktes tun – das ist unser persönliches Familienmotto geworden. Es hat uns schon viele wunderschöne und auch lustige Momente beschert. Manchmal steht man vor Situationen, in denen man denkt: Soll ich das jetzt wirklich tun? Vielleicht hat man vor genau dieser Situation Angst oder man findet es einfach nur völlig albern. Viele fragen sich dann vielleicht: warum? Warum sollte ich mir das antun? Wir hingegen fragen uns: warum nicht?“ (1)

Ob etwas für einen selbst verrückt erscheint oder nicht, liegt zunächst im Auge des Betrachters. Foto: @vanenunes via envato.elements

Was könnte man Ver-rücktes tun?

Ob etwas für einen selbst verrückt erscheint oder nicht, liegt zunächst im Auge des Betrachters, also von einem Selbst. Wer beispielsweise Höhenangst hat, für den ist es etwas Verrücktes und Mutiges, auf einem erklommenen Berggipfel nun auch noch das 70 Meter hohe stählerne Ungetüm, das harmlos als Aussichtsturm benannt wurde, zu besteigen. Verrücktes lässt sich auch in den Alltag einbauen: Wer jeden Morgen denselben Weg zu Arbeit nimmt, der kann einmal einen anderen Weg. Zu Fuß oder mit dem Fahrrad entdeckt man so mit Sicherheit etwas, das man noch gar nie oder schon lange nicht mehr bewusst gesehen hat. Auch ein Perspektivwechsel kann sehr hilfreich sein: Man kann mal ein paar Meter rückwärtslaufen oder geht mal durch die seit Jahrzehnten bekannte Fußgängerzone wie ein fremder Tourist, lässt sich dabei Zeit, schaut mal einzelne Hausfassaden an, entdeckt schöne Ornamente, nimmt die Menschen wieder als einzelne Subjekte und intensiv wahr – man könnte sagen: Atmet das Leben seiner Mitwelt wieder einmal ganz bewusst ein.

Die Ausnahme bestätigt die Regel

Das ist eben auch ein Ziel dieses Tages: Sich der Einzigartigkeit des eigenen Lebens und dieses Tages bewusst zu werden. Der Tag kommt nie mehr wieder – was bleibt von diesem Tag übrig, wenn er vorbei ist? Für welches Erlebnis bin ich abends vielleicht dann besonders dankbar? Welche Erkenntnis konnte ich hinzugewinnen? Mit welchen Menschen war ich in Kontakt? In den heutigen Zeiten, in denen viele auf ihr Smartphone starren und sich nicht mehr angucken, kann schon ein wenig Aufmerksamkeit wie eine Verrücktheit herkommen. Ein kurzes Gespräch mit einer einsamen alten Dame, die jeden Morgen mit ihrem Rollator tapfer ihre „Frühsport-Runden“ dreht, rückt diese aus ihrer Einsamkeit. Ein Leuchten in ihren Augen könnte zurückkehren, das faltige Gesicht könnte sich etwas glätten. Verrückt ist es vielleicht auch schon, frühmorgens in ein Geschäft zu gehen und frisch gelaunt und froh zu grüßen. Beim Betreten des Ladens einfach mal ein „Einen wunderbaren schönen guten Morgen, wünsche ich“ in die Warteschlange an der Verkaufstheke trällern und – jetzt wird es total verrückt – noch ein „Schön habt Ihr das wieder alles hingerichtet“ hinterherschieben.

Oft reicht es schon aus, wenn wir selbst mit einem Lächeln im Gesicht anderen gegenübertreten. Foto: @microgen via envato.elements

Glücksbringer und „Lächle-Jäger“

Das hat etwas mit Lebendigkeit und Dankbarkeit zu tun, aber auch mit Respekt und Wertschätzung. Egal, ob es die Obst- und Gemüsetheke im Supermarkt, die Auslagen in der Fleisch- oder Bäckereitheke sind: Die Menschen dort fangen oft schon um drei oder vier Uhr in der Nacht an zu arbeiten, damit wir ab Punkt 6.30 Uhr – noch müde und stoffelig verschlafen – dort alles für unseren Einkauf vorfinden. Für die Bäckereifachverkäuferin, die ein Kunde morgens für die schöne Theke lobt, bekommt der Tag eine ganz andere Richtung, denn auch ihre Routine ist durchbrochen. Vermutlich erzählt sie es ihren Kollegen und Kolleginnen, wahrscheinlich sogar nach Feierabend der Familie und Bekannten.

Routinen helfen uns Energie zu sparen, verrücktes kann uns neue Energiequellen eröffnen. Wie immer im Leben kommt es auf die Balance an. Es macht Spaß, ab und an aus der Routine auszubrechen und für andere Glücksbringer zu sein. Eine andere verrückte Aktion könnte der Versuch sein, andere zum Lachen oder zumindest zum Lächeln zu bewegen. Oft reicht es schon aus, wenn wir selbst mit einem Lächeln im Gesicht anderen gegenübertreten. Das steckt viele an, denn die meisten Menschen sind in Gedanken und mit einem angespannten Gesichtsausdruck unterwegs. Sie laufen hier, sind aber in Gedanken schon ganz woanders. Was macht das mit unserer Lebenszeit, mit unserem Zeitgefühl?

Indem wir die Routinen durchbrechen und mehr Neues und Unerwartetes in unser Leben bringen, verändert sich auch das Zeitgefühl wieder. Foto: @korneevamaha via envato.elements

Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt“

„Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt, denn er wird niemals alt, die Hölle wird nicht kalt“, sang Barry Ryan 1971 in einem erfolgreichen Schlager. Ein Song, der an das begrenzte Leben erinnert und der auch mahnt, das, was einem wichtig ist, nicht immer und immer wieder zu schieben. Viele Menschen kennen auch das Gefühl: Mit zunehmendem Alter wird das Leben immer langweiliger und immer mehr vom Alltag bestimmt, es scheint gleichzeitig immer schneller zu vergehen.

Woran mag das liegen? Forscher haben dieses Zeitgefühl untersucht und erkannt: In unserer Kindheit und Jugend lernen wir ununterbrochen Neues hinzu. Alles ist neu: Sprechen lernen, Gehen lernen, Radfahren und Schwimmen lernen – die Liste dessen, was wir neu erfahren ist fast endlos in der Kindheit. In der Pubertät kommen Beziehungsthemen und Sexualität dazu, dann eine Lehre oder ein Studium. In den ersten Berufen ist alles neu: Wir sind von den Eltern auszogen, in eine neue Stadt – vielleicht sogar ein anderes Land. Es folgen erste Beziehungen, Ehe, Familie, Hausbau… Kurzum: Das Leben war lebendig und angefüllt mit Ereignissen und das Zeitgefühl ein völlig anderes.

Indem wir die Routinen bewusst durchbrechen und wieder etwas mehr Neues und Unerwartetes in unser Leben bringen, verändert sich auch das Zeitgefühl wieder. Wir müssen ja nicht werden wie die Adrenalin-Junkies, die sich an einem Tag mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug stürzen und am anderen Heliskiing machen (müssen), um zu spüren, wirklich lebendig zu sein. Es kann sich für uns schon viel verändern, wenn wir im Alltag einfach mal dort, wo wir bislang immer „Ja“, gesagt oder etwas, „einfach gemacht“ haben, einmal „Nein“ sagen und es einfach liegen lassen.

Übrigens: Wenn es sich eingespielt haben sollte, jeden Tag etwas Verrücktes zu machen, wenn es also zur Routine geworden ist, wäre es geradewegs verrückt, diese Routine nicht mal auszusetzen. Dann wäre auf einmal die Ausnahme zur Regel geworden. Ansonsten sind der Verrücktheit selbst wenig Grenzen gesetzt: Nur schaden wollen wir mit einer verrückten Aktion keinem. Jens Corrsen, ein groß gewachsener Mann, Verhaltenstherapeut und Diplom Psychologe, wurde unter anderem dadurch bekannt, indem er durch die Stadt lief, plötzlich seinen Oberkörper nach oben und die Hände hochriss, wobei er wirre Geräusche von sich gab. Das erfordert Mut und Verrücktheit, bringt gleichzeitig Lebendigkeit zurück. (3)

Keep the wild in you. Foto: @twenty20photos via envato.elements

Walk on the wild side

Wem die Idee, einfach nur mit dem linken Fuß statt mit dem rechten aus dem Bett aufzustehen, zu langweilig ist, der fühle sich frei, seine wirklich wilde Seite an sich entdecken. Für den ist der 29.03. vielleicht nicht Trigger genug, um aktiv zu werden. Aber keine Sorge: Abhilfe naht! Der „Walk on the wild side day“ folgt am 12. April – also in Kürze. Am „Zeige-Deine-wilde-Seite-Tag“ soll man, so meinen die Initiatoren, etwas Unberechenbares, Wildes tun. Auf der Website (4; englisch) ist in Tagebuchform aufgelistet, was die Initiatoren unter Unberechenbaren verstehen. Am 07. April letzten Jahres war das z. B. der „No Housework day“: Keine Betten machen und kein Geschirr abwaschen … Manch einer wird sich wundern, weil ohnehin nie im Haushalt aktiv ist. Für andere ist es eine Herausforderung, eine nicht aufgeräumte Wohnung auch nur einen Tag auszuhalten.

Warum die Website allerdings wellcat heißt, scheint schon eine Verrücktheit an sich zu sein, denn „wellcat“ ist eigentlich eine Person, die es immer und zu jeder Zeit allen recht zu machen versucht, und zwar bis zu Selbstaufopferung. Im Deutschen gibt es dazu passend den ermahnenden Spruch: „Every bodies darling is everybodies arsch.“ Pardon – der Volksmund ist manchmal deftig und zutreffend in der Formulierung. Deutlich galanter hatte es Albert Einstein einst ausgedrückt: „Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu wollen, muss man vor allem eines sein: ein Schaf.“ Wohlgemerkt: Auch das schwarze Schaf ist hierin eingeschlossen. Verrückt oder wild zu sein bedeutet, einfach mal ein Wolf zu sein. Also – auf geht’s. Den alten Gassenhauer „Take a walk on the wild side“ von Lou Reed von 1972 auf dem Plattenteller anhören und die Ideen für was Verrücktes sprudeln lassen. (5) Der Autor dieser Zeilen macht jetzt auch etwas völlig Wildes und Verrücktes, etwas absolut Unerwartetes, in dem er diesen letzten Satz einfach nicht bis zum Ende …

Quellenverzeichnis:

  1. https://www.kuriose-feiertage.de/einmal-am-tag-etwas-verruecktes-tun-tag/
    Quelle: Berenike Thiede am 26. März 2021 per E-Mail
  2. Schlagertitel von Barry Ryan (1971) Quelle: Berenike Thiede am 26. März 2021 per E-Mail
    https://www.dailymotion.com/video/x48wv5p
  3. Empfehlenswerter Vortrag von Jens Corrsen: https://www.youtube.com/watch?v=NfE9ziasy8Y
  4. Wellcat / Take-a-Walk-on-the-Wildeside-Day: http://markusharris.com/wellcat/holidays.html#spring
  5. Song von Lou Reed „Take a walk on the wild side“ https://www.youtube.com/watch?v=oG6fayQBm9w

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